Ein regattafähiges Tourenboot

Der Versuch, ein Land von Nichtschwimmern durch Förderung des Regattasports zur Seefahrernation umzubauen, verlief nicht immer nach Kaiser Wilhelms Plan. Bereits 1911 zeigte sich, dass den Seglern der Sinn nicht ausschließlich nach Wettkampf stand. Sie verlangten nach regattafähigen Yachten, die auch zum Fahrtensegeln geeignet, billig, wohnlich und schnell waren. Auch wenn es den „Herren“ zunächst vor der „Stullen fressenden Tourensegelei“ grauste, wurde die Klasse bald zum Erfolgsmodell.

„Um einem allseitig gefühlten Bedürfnis abzuhelfen, ist zur Hebung der Rennsegelei auf deutschen Binnengewässern eine rennfähige Kreuzerklasse zu schaffen ….“. Der Antrag, den der Potsdamer Segelclub auf dem Seglertag 1911 stellte, stieß zunächst auf großen Widerstand. Von einer „gefährlichen Durchlöcherung“ des internationalen Messverfahrens, sprach der Vorstand des Deutschen Seglerverbands und lehnte ihn, zusammen mit dem Kaiserlichen Yachtclub, erst einmal kategorisch ab.  Dabei war das Anliegen, stellvertretend für viele Segler der Binnengewässer vorgebracht, durchaus nachvollziehbar. Zu schwer für die leichten Winde der Berliner Seen und für viele zu teuer, erfreuten sich die Konstruktionen der „International Rule“, der Meterklassen, keiner großen Beliebtheit. Und wollte man eine solche ausgemusterte mR-Yacht zum „Wandersegeln“ nutzen, sank der Spaßfaktor gegen Null. Mit einem kleineren Rigg ließen sich die für Fahrtensegler übertakelten Bleitransporter kaum mehr vorwärtsbewegen und Wohnkomfort suchte man auf einer solchen reinrassigen und schmalen Rennziege sowieso vergeblich.

1912 wurde der erste 45qm Nationale Kreuzer gebaut

So stand nicht mehr als die Forderung nach einer binnenreviertauglichen Klasse für den durchschnittlichen Geldbeutel durchschnittlicher Segler im Raum. Ein Segment, das vom DSV – dieser hatte damals nur Herrensport in gesellschaftlicher und finanzieller Exklusivität auf dem Schirm – bis dahin völlig übersehen worden war. Nach heftigen Debatten wurde dem Antrag schließlich stattgegeben und eine technische Kommission zur Festlegung der Bauvorschriften ernannt. Es war die Geburtsstunde der Nationalen Kreuzer. Zuerst wurden die 45qm für das Binnen- dann die 75qm fürs Seerevier kreiert. Nach dem Ersten Weltkrieg folgten 35qm, 60qm und 125qm Nationale Kreuzer.

Schon 1912 wurde der erste 45qm Nationalen Kreuzer, „Wunsch II“ von Max Oertz gezeichnet und gebaut, und während von den 6mR- und 8mR-Yachten immer weniger Exemplare vom Stapel liefen, konnte die Saison 1913 bereits mit 18 Neubauten in der 45er und 75er-Klasse punkten. 1925 waren im Yachtregister des DSV 91 45er registriert.

Anders als die Formel der „International Rule“, bei der die Werte von Schiffslänge, Schiffsbreite, Wasserlinienlänge, Tiefgang, Freibord und Segelfläche eingesetzt, eine feste Zahl, wie zum Beispiel sechs für eine 6mR-Yacht, ergeben muss,  wurden Nationale Kreuzer nach dem Grenzmeßverfahren gebaut. Dabei wurde zunächst nur ein Verhältnis der Länge über alles zur Länge der Wasserlinie festgelegt. Dazu Mindest- und Höchstmaße des Freibords, ein Minimum an Baugewicht, die Segelfläche sowie Abmessungen der Kajüte. Auch der Wohnkomfort wurde definiert.

Im Laufe der Zeit führte die großzügig formulierte Bauvorschrift, die die Freiheit der Konstrukteure nicht unnötig einschränken sollte, zu immer längeren Yachten. Begnügte sich Wunsch II von Oertz noch mit einer Länge von 8,38 Metern, maß Kaspar II, ein Jahr später gebaut, bereits 10,05 Meter. 1914 wurde Humba mit einer Länge von 10,50 Metern und einer Wasserlinie von 7,52 Metern vom Stapel geschickt. Die sportliche Fahrtenyacht drohte langsam aber sicher zum extremen Racer zu werden.

1933 wurden die 45qm Nationalen Kreuzer zur Altersklasse erklärt

1916 war Schluss damit, und die Abmessungen der 45qm-Kreuzer wurde auf eine Länge von 10,50 Metern und eine Wasserlinienlänge auf 7,50 Metern bei einer Breite von 2,50 Meter begrenzt.

Bereits Mitte der 20er-Jahre war klar, dass die Nationalen Kreuzer ihren Zenit überschritten hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Deutschland und Österreich unter Beifall als Kriegsverursacher aus der neu gegründeten I.Y.R.U (International Yacht Racing Union, dem Vorläufer der ISAF) ausgeschlossen. Damit fanden nahezu alle internationalen Regatten „bis auf weiteres“ ohne deutsche und österreichische Beteiligung statt. Nur mit Schärenkreuzern konnten sie ab 1920 an internationalen Regatten in den neutralen skandinavischen Ländern teilnehmen. Alles andere blieb „national“ und die nationalen Klassen halfen dem deutschen Segelsport zu überleben. Als diese Verbannung 1928 aufgehoben wurde, rückten die internationalen Klassen wieder in den Vordergrund.

Mit Gründung der seegängigeren Seefahrtsklassen durch den DSV 1928 wurden die großen nationalen Kreuzer vielfach umgeriggt. So wurden aus 125qm Nationalen Kreuzern 80er Seefahrtskreuzer gemacht.

1933 wurden die 45qm Nationalen Kreuzer zur Altersklasse, ohne Neubauerlaubnis, erklärt. Erst seit 1990 entstehen sowohl in der Martin-Werft in Radolfzell, als auch in der Glas-Werft in Possenhofen zahlreiche formverleimte Neubauten. 1999 wurden die Bauvorschriften durch die Klassenvereinigung den heutigen Materialien und Techniken angepasst. Etwa 40 Yachten sind heute alleine am Bodensee zuhause, nochmal so viele auf anderen deutschen Seen und ungeachtet ihres Alters treffen sie regelmäßig bei Regatten aufeinander.

T


Talent mit viel Vergangenheit

Am 6. Mai 2018 war der Jubel auf der „May“ groß. Souverän hatte der 45qm Nationale Kreuzer die Pokalregatta vor Friedrichshafen gewonnen. Dabei war noch nicht einmal sicher, ob „May“ mit dem Feld mithalten kann.

Drei Jahre lang hatte Wolfgang Beck aus Hard versucht „May“ zu verkaufen. Keine leichte Entscheidung nach einer 25-jährigen, innigen Freundschaft zwischen dem Segler und der Yacht. Mit den beiden war auf der Regattabahn – zumindest bei kräftigem Wind – immer zu rechnen. „Es war ein schwerer Schritt, mich von May zu trennen, um den leichteren Weg mit „Fee“ zu gehen, sagt er. Denn „May“ trug ein Gaffelrigg. Und als seine Pensionierung nahte, war Wolfgang Beck klar, dass sie für ihn nicht mehr die richtige Gefährtin war. Mit Gaffelrigg und ohne Motor hätte er immer eine Mannschaft gebraucht. Dabei wollte er im Ruhestand öfter zum Segeln gehen, spontan und auch einmal alleine.

So entschied er sich für „Fee“, einen 45er, 1991 von Josef Martin in Radolfzell gebaut, mit modernem Rigg und Einbaumaschine.

Mit „Schuft“, „Argo“ und „Windspiel“ im Hafen des Württembergischen Yachtclubs waren Oswald Freivogel und Niklaus Diesch auf der Suche nach einem weiteren 45qm Nationalen Kreuzer, um die Flotte zu vergrößern und damit Spaß zu haben. Doch „May“ schien ihnen mit ihrem Gaffelrigg weder unkompliziert noch konkurrenzfähig zu sein. So wartete Beck auf einen Käufer und die beiden Segler auf eine passende Yacht.

Als „Schuft“ ein neues Rigg bekam, löste sich das Problem ganz von alleine. „May“ bekam im Dezember 2017 neue Eigner und gleichzeitig ein modernes Rigg aus Aluminium. Es gab viele kritische Stimmen. Ein höherer Mast, ein viel kürzerer Baum und damit ein Segelschwerpunkt, der sich weiter nach vorne verlagern würde, hätte die Segeleigenschaften der Yacht komplett verderben können. Doch alles ging gut und „May“ wurde schneller als je zuvor.

May

„Für mich wäre es eine Sünde gewesen und ich wollte nicht in ewiger Verdammnis enden“, sagt Wolfgang Beck mit einem Schmunzeln über das Umriggen der Yacht. Dabei liegt die wahre Vergangenheit von „May“ genauso im Dunkeln wie ihr Baujahr und damit die Art der Takelage, die ihr Konstrukteur für sie ursprünglich vorgesehen hat.

Als er „May“ 1989 fand, hieß sie „Viva II“, hing in Lochau in den Festmachern und stand bis über die Bodenbretter voll mit Wasser. Mit einer nutzlosen Stenge am Mast, an der keinerlei Beschlag montiert, und einem Bugspriet, an dem die Genua angeschlagen war, erinnerte sie ein bisschen an ein Piratenschiff aber nicht unbedingt an einen 45qm Nationalen Kreuzer. Beck schöpfte sie aus und war überrascht, von ihrer guten Substanz.

Wie es für Liebhaber klassischer Yachten gehört, interessierte er sich für die Geschichte von „Viva II“ ex „Hanseat“. In der 45er-Chronik von Adolf Haaga, damals Präsident der Klassenvereinigung, war unter dem Segelzeichen „P7“ eine Yacht namens „May“ eingetragen, 1913 von Fritz Naglo, Geschäftsführer der Werft Engelbrecht in Zeuthen, für Herrn P. Haendly vom Wannsee gebaut. 1918 wurde sie, diesem Eintrag zu Folge, verkauft. Von hier an verlor sich ihre Spur, bis sie 1972, jetzt im Besitz eines Mitglieds des Bregenzer Segelclubs, unter dem Namen „Hanseat“ wieder in Erscheinung trat. Dessen Sohn übernahm 1978 die Yacht und nannte sie von da an „Viva II“. Als er in alten Ausgaben des Magazins „Wassersport“ sowohl einen Auszug aus dem Yachtregister des Germanischen Lloyd entdeckte, in dem „May“ mit dem Segelzeichen P7 mit Baujahr September 1912 zertifiziert worden war, als auch einen Beitrag fand, der über ihre erfolgreiche Teilnahme an der Pokal-Regatta des Vereins Seglerhaus am Wannsee im April 1913 berichtete, war er ziemlich sicher, dass es sich bei P7 um „May“ Baujahr 1912 handelte.

Mulleken

Doch der blinde Fleck von 53 Jahren ließ ihm keine Ruhe. Inzwischen hatte er herausgefunden, dass P7 als „Hanseat“ eine von drei 45ern der Bodensee-Yachtschule Lindau gewesen war. Diese Episode passte auch zum Zustand der Yacht, wie er sie 1989 vorgefunden hatte: Der Innenausbau war entfernt und durch lange Lattenbänke ersetzt worden und bot so reichlich Raum, um viele Segelschüler unterzubringen.

Der frühere Leiter dieser Segelschule wusste zu berichten, dass er P7 „Hanseat“ von einem gewissen „Karl“ erworben hatte, der die Yacht am Rhein gesegelt hat. Als Beck diese Geschichte 1991 im Begleitheft zur ersten Bodensee-Traditionswoche veröffentlichte, meldete sich ein Jahr später Vera Tusch aus Köln.

Als Kind war sie mit ihrem Vater mit „Hanseat“ auf dem Rhein gesegelt, schickte Beck Fotos aus den 40er- und 50er-Jahren sowie die Kopie eines Messbriefs von 1935. „Dieser Messbrief hat alle meine bisherigen Erkenntnisse über den Haufen geworfen“, erzählt Beck. Denn laut diesem Messbrief und den dazugehörigen Standerscheinen, war P7 im Jahr 1925 vom Möbelfabrikanten Franz Biebler in Berlin-Friedrichshagen nach Plänen von Paul Francke, einem Konstrukteur, der auch die Firma Engelbrecht mit seinem Wissen versorgte, selbst gebaut worden. Als „Mulleken III“ segelte sie, gegen den Trend der damaligen Zeit, mit Gaffelrigg. Denn Biebler wollte, ausgehend vom Heimatrevier Müggelsee, auch die anderen Berliner Seen befahren und fand es einfacher, den vergleichsweise kurzen Mast mit der installierten Jüteinrichtung zu legen.

1938 kaufte sie Hans Hasenkamp aus Köln, nannte sie „Hanseat“, um sie später an einen Karl Strehl weiterzuverkaufen. Von diesem „Karl“ bekam die Bodensee-Yachtschule 1961 vermutlich die Yacht.

Kaete

Als Wolfgang Beck nicht ruhte und im Berliner Telefonbuch einen Kurt Biebler fand, sollte es noch schlimmer kommen. Dieser, tatsächlich ein Enkel von Franz Biebler, der 1925 Mulleken gebaut hatte, besuchte Beck am Bodensee. Neben vielen Fotos aus den 20er- und 30er-Jahren hatte er auch eine Postkarte im Gepäck, die die besagte Yacht zeigt, abgestempelt am 12. Mai 1924, also ein Jahr bevor sie gebaut worden war. Der Bruder seines Großvaters, wusste Biebler zu berichten, habe ebenfalls einen 45qm Nationalen Kreuzer besessen. Vielleicht gebraucht gekauft. Ein Blick in das 45er-Register machte das Chaos perfekt. Unter P47 und P147 ist zweimal derselbe Eintrag zu finden. „Kaete“, Konstrukteur Francke, Selbstbau Max Biebler.

Ist die heutige „May“ die „May“ Baujahr 1912, „Mulleken“ von 1925 oder „Kaete“, vielleicht gebraucht gekauft?

Nachdem „May“ im Juni nicht nur den Harder Cup und die Lindauer Pokalregatta gewonnen hatte, sondern auch erster Klassiker beim Europacup und in der Gesamtwertung fünfte wurde, spielt das auch keine Rolle mehr. „May“ ist schnell und ist das, was ihre neuen Eigner wollten.

Technische Daten 1935

Länge:                         10,50 m

Breite:                          2,23 m

Länge d. Wasserlinie:  7,49 m

Tiefgang:                     1.20 m

Gewicht:                 über 2,40 t          

Gesamte Segelfläche: 44,92 m²       

Anette Bengelsdorf

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Texte, Reportagen, Berichterstattung und Fotos rund um Wassersport und Segeln. Neben Fachartikeln in Wassersportmagazinen berichtet Anette Bengelsdorf für die Tagespresse in Wort und Bild und steht für Pressearbeit zur Verfügung.

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