Hommage an einen Perfektionisten

Er poltert nicht Gischt-Fontänen-spritzend ins Wasser. Sein beinahe 18 Meter langer Rumpf teilt die kurze Windwelle wie ein Messer die Sahne. Die schier endlosen Überhänge scheinen über dem Wasser zu schweben, als eine einfallende Bö den Achttonner krängt und seine zwölf Meter lange Wasserlinie deutlich verlängert. „Länge läuft“ – die Yacht setzt augenblicklich Druck in Fahrt um und das nasse Element rückt dem Teakdeck auf die Leisten.

Aus schwarzen Wolken hatte es noch am Morgen hemmungslos geschüttet. Jetzt am späten Nachmittag nimmt die Sonne den Kampf mit ihnen auf, drängt sich immer öfter in den Vordergrund, wirft Schlaglichter auf das verschwenderische Grün rund um den Untersee und lässt das afrikanische Khaya-Mahagoni des Schärenkreuzers flammend leuchten. Die Yacht ist ein Gesamtkunstwerk aus einer Zeit, als sich Yachtdesign mehr als Kunst denn als Wissenschaft verstand und Versuch und Irrtum neben Geschwindigkeit erotische Linien von zeitloser Eleganz hervorbrachten. Solche Yachten wurden zum Segeln gebaut und Nasszellen mit Stehhöhe waren noch keine feste Größe wie in den aufgeblasenen Wohncontainern der heutigen Zeit.

„Ich bin begeistert von der ästhetischen Schönheit dieser Yacht“, sagte der Eigner, ein erklärter Liebhaber alten Kulturguts, als das Möbelstück nach zwei Jahren Bauzeit erstmals mit dem Kiel sein Element berührte. Das Geschwindigkeitspotenzial der Schärenkreuzer hatte es dem Eigner mehrerer klassischer Yachten angetan und es wäre ihm eine Ehre gewesen, Argo, einen der letzten 75er am Bodensee, wieder zum Leben zu erwecken. Doch es sollte nicht sein und der Versuch einen 95er in Schweden zu kaufen scheiterte an den unverhältnismäßigen Preisvorstellungen seines Eigners. Zuletzt wurde die Idee, den 1923 verbrannten 150er Schärenkreuzer „Singoalla“, ein Projektil aus der Feder Gustaf Estlanders, neu zu bauen, bei allem Charme verworfen. Zu eng waren die Grenzen des Untersees für die Legende mit den Abmessungen einer ausgewachsenen 12mR-Yacht gesteckt. Stattdessen legte die Vernunft ein Maximum von 18 Metern fest, der Ehrgeiz wünschte sich einen Riss mit hohem Geschwindigkeitspotenzial, die Ästhetik einen Entwurf mit einer Kajüte, die nicht das Aussehen einer Telefonzelle hat.

Um ein geeignetes Objekt aufzuspüren brachte Josef Martin die Konstrukteurin Juliane Hempel ins Spiel. Zwei Tage vor Heiligabend nahm sie Kontakt mit Schweden auf, sprach mit Torkel Sintorn, dem Vorsitzenden des technischen Komitees aller Schärenkreuzerklassen. „Er hat sich spontan frei genommen um mit mir in die Museen zu gehen“, erzählt sie. In einem kleinen, privaten Museum in Stockholm wurden die beiden fündig. Etliche Pläne noch nie gebauter Schärenkreuzer im Gepäck flog sie zurück an den Bodensee. Es dauerte nicht lange und ein 75er, gezeichnet von Gustaf Estlander im Jahr 1927, eroberte die Herzen. „Gustaf“ nannte der Eigner das noch namenlose Boot.

Zwei Jahr nach der Regeländerung, die die immer länger werdenden Rümpfe der Schärenkreuzer durch eine Vergrößerung von Verdrängung, Breite, Freibord und Kiellänge einhegen sollte, zeichnete er die Yacht, um sie in seiner Berliner Pabst-Werft zu bauen, in der er auch seine extremsten Entwürfe realisierte. Denn nicht zuletzt Estlander war es zu verdanken, dass 1925 verwegenen Konstruktionen, bei denen die Seetüchtigkeit schon mal auf der Strecke blieb, mit einer Verschärfung der Regeln ein Riegel vorgeschoben wurde. Wie kein anderer verstand es der Architekt, die großzügige Formel, die zunächst in erster Linie die Segelfläche limitierte, sehr kreativ zu interpretieren und jede erdenkliche Lücke zu nutzen. Er ging aus Prinzip ans Limit.

Vor dem Hintergrund der zu erwartenden, marginalen Toleranzen stand daher für Josef Martin von Anfang an fest, Gustaf digital nachkonstruieren zu lassen. Die für die Formgebung relevanten Spanten zeichnete Juliane Hempel in definierter Länge in ihr Computer-Programm und zog sie mit der Maus in die von Estlander festgelegte Form. Jeden Einzelnen. Sie legte virtuelle Planken auf den Rumpf, konnte ihre exakte Verjüngung an Bug und Heck bestimmen und passte die Schraubenlöcher an. Nach dieser Schablone konnten die Planken zurechtgehobelt und vergleichsweise zügig festgeschraubt werden. Sie konstruierte für jeden Spant und jede Bodenwrange den korrekten Schmiegewinkel. Den Winkel, in dem sich Spanten und Bodenwrangen an ihrer jeweiligen Position von innen an die Bordwand schmiegen. Für jede Lamelle aus Akazienholz der etwa 60 formverleimten Holzspanten zeichnete sie die komplizierten Kurven und plottete sie im Originalmaß auf Papier. Den Bootsbauern blieb das mühsame auf „Schmiege hobeln“ erspart, dem Schlosser das wochenlange Anpassen der Stahlteile. Die stählernen Bodenwrangen konnten so mithilfe der entsprechenden Datei fixfertig zugeschnitten werden. Davon abgesehen baute Josef Martin die Yacht weitgehend wie zu Zeiten des Konstrukteurs.

Der Kompositbau – zwischen zwei Stahlspanten wurden zwei Holzspanten eingefügt – warf bei Josef Martin eine zentrale Frage auf. „Woraus sollen wir die Stahlspanten machen“? Als er vor Jahren vor dieser Entscheidung beim Bau des 12ers „Anitra“ stand, suchte er bei Abeking und Rasmussen Rat. Der damalige Werftleiter, ein sehr erfahrener Bootsbauer, empfahl ihm, zugunsten von verzinktem Schiffbaustahl auf Edelstahl zu verzichten, da dieser anfälliger für Spaltkorrosion sei. Aus heutiger Sicht, sagte er, hätte er trotzdem Edelstahl genommen. Denn Spaltkorrosion tritt nur dann auf, wenn sich der Stahl im Wasser befindet. Durch die unterschiedliche Konzentration von Sauerstoff- und Wasserstoffverbindungen innerhalb und außerhalb eines Spalts im Stahl entsteht eine Potenzialdifferenz, die unweigerlich zu einer elektrochemisch bedingten Korrosion führt. Doch Anitra sei bis heute staubtrocken und so sind Gustafs Spanten aus Edelstahl, die Planken daran mit Edelstahlschrauben fixiert. An den Holzspanten dagegen wurden sie traditionell mit Kupfer vernietet. Das Beplanken dauerte ein halbes Jahr. „Es war interessant, wie sich die Länge der Yacht in der subjektiven Wahrnehmung veränderte“, sagte der Eigner zum Bauprozess. „Am Anfang, nur mit den Spanten, sah sie eher klein aus. Mit den Planken, wurde sie dann zu einer stattlichen Erscheinung“.

Als Gustaf zum ersten Mal im Hafen der Martinwerft schwamm, kniete Juliane Hempel auf den Steg, um den Sitz der Wasserlinie zu überprüfen. „Ich bin unheimlich erleichtert“, sagte sie. „Hier waren die Toleranzen so gering, man hätte nichts korrigieren können“. Estlander sei mit vielen Maßen bis auf den Millimeter auf Minimum gegangen und die Länge habe er natürlich maximal ausgenutzt. Die Bootsbauer mussten extrem präzise bauen und laufend nachmessen, sonst hätte die Wasserlinie nicht gestimmt. Doch die drei Meister haben ein Meisterwerk geschaffen. „Ich bin selber Perfektionist“, sagte der Eigner, „daher macht es mir große Freunde, solche Perfektion zu sehen“. Estlander hätte seine Freude gehabt.

Der Tag des Stapellaufs brachte nicht nur Erleichterung. Gustaf fehle ihm. Es sei ein wenig so, wie wenn der Partner stirbt, beschrieb Josef Martin die plötzliche Leere. Der Bootsbauer lebt mit den Booten und wenn er vom Schreibtisch genug hat, geht er in die Werft. Er läuft durch den Rumpf, setzte sich hin und taucht ein in seine Welt. Dort darf er auch träumen: „Gustaf ist etwas ganz Besonderes und er wird sicher auf dem Bodensee, vielleicht auch in Deutschland, Aufsehen erregen. Doch wer Singoalla baut, der ist garantiert weltweit im Gespräch“.

Die Fock steht wie ein gebogenes Blech, als der Bootsbauer sie über die mattglänzende Edelstahlwinsch dicht holt. Neuneinhalb Knoten zeigt das Log bei einer Windstärke von drei bis vier Beaufort. Wie die Winschen sind alle Beschläge aus glaskugelgestrahltem Edelstahl gefertigt, auch die am Mast. Die Segel, von North in der 3Di-Technik aus gelber Faser laminiert, stellen die klassische Sehgewohnheit etwas auf die Probe, bieten jedoch maximale Festigkeit bei relativ geringem Gewicht. Ein kugelgelagertes Lattenrutschersystem am Zweisalingmast aus Spruce und die elektrische Rollanlage – da die Vorsegel nicht in einem Profilvorstag sondern mit Stagreitern angeschlagen sind – eine Sonderanfertigung von Bartels, erleichtern die Bedienung. Ein konsequenter Bruch mit der historischen Technik.

Estlander hat die Yacht ohne Motor gezeichnet. Wohin mit einem großen Diesel inklusive Tank? Beinahe geräuschlos bewegt sich jetzt Gustaf auf den Hafen zu, angetrieben von einem Elektromotor. Mit Dreiviertellast, das heißt mit einer Geschwindigkeit von etwa sechs Knoten, befördert er die Yacht für viereinhalb Stunden sicher über den See. Die zwei Lithium-Jonen-Batterien, jede etwa 65 Kilo schwer, wurden in die Kleiderschränke verfrachtet. Die klassisch ausgebaute Kajüte bietet im Verhältnis zur der Länge der Yacht ohnehin ein begrenztes Platzangebot, das sich an dem einer modernen Fahrtenyacht nicht messen lassen muss. Gustaf soll segeln. Auf dem Bodensee mit kleiner Crew und auf internationalem Regattaparcours mit Profis. Denn der Eigner möchte sie ab und zu auch an den Ort ihres Ursprungs bringen. „Wir werden in Schweden schon erwartet“.

Anette Bengelsdorf

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Texte, Reportagen, Berichterstattung und Fotos rund um Wassersport und Segeln. Neben Fachartikeln in Wassersportmagazinen berichtet Anette Bengelsdorf für die Tagespresse in Wort und Bild und steht für Pressearbeit zur Verfügung.

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